Leopold Federmair    
Pathosreste    

Früher, früher waren da Elemente, die auf etwas verwiesen, das man zu kennen meinte, etwas, worüber personale, chronologisch geordnete Angaben möglichwaren: eine Biographie. Das Gebirge zum Beispiel war das Gebirge der Kindheit, die Frau war die Mutter oder die Geliebte,der Sitzende war der Freund, der Hund mit dem Stock im Maul war der Begleiter, die Schafe sahen drein wie Gebirgsschafe, die Schweine wurden brutal abgeschlachtet wie in früheren Zeiten, dieunheimatlichen Landschaften hat ten geographische Namen. Der war der und das war das und hieß so und so. Aber schon am Anfang der Geschichte dieses Sehens waren da an den selben Stellen Bilder auch nie gesehene Elemente, denen nichtsim vertrauen Leben entsprach, die aber im Lauf der Zeit des Betrachtens eine eigene Vertrautheit erzeugten:Kleinpeterfiguren undKleinpeterdinge,zusammengeklappte, halbgeborene Wesen und andere, die sich schon zu zersetzen begannen, die ihre Verwesung ahnen ließen; auch Dinge mit eigenwilligen Umrissen, ohne bestimmbare Substanz, ohne erkennbare Deformation und folglich ohne Herkunft von einer ursprünglicheren Form eines anderen Dings.

Manchmal litten die Wesen unter dem Druck ihrer Umgebung, am meisten dann, wenn die Umgebung scheinbar leer war, sie krampften sich zusammen, der Druckkam von den Seiten, aber auch von oben und unten, und am Ende so einesProzesses, eines sogenannten bildnerischen Prozesses, konnte es sein, daß sie zuStein wurden. Mensch, Brot, Wasser, alles Einzelne war plötzlich zu Stein geworden. Und ringsum tönten die Stürme der Pinselstriche, die sich nicht aneinanderfügen wollten, und nur das Versteinte widerstand.
Die Striche waren gegeneinandergeführt, die Flächen verbissen sich ineinander und rauhten sich dabei auf, sie schoben sich übereinander und kämpften, wenn sielagen, um den kleinsten Vorschein. Breschen wurden geschlagen von dereingreifenden Hand, Spälte wurden geöffnet, Stellen aufgekratzt, Decken weggezerrt. Die gehorchte einer Ausdruckswut, und das, was sich ausdrückte,konnte nur von einem Innenraum herkommen: Es war also die Wut einer Art Seele, die sich in den kräftigen Farben wiedererkannte, aber noch im selben Augenblickwußte, daß sie sich täuschte. Solchen Täuschungen setzte sie nach und verwarf sie, fand naturgemäß keine Ruhe, kam im Ausdruck nicht zu sich. Der Ausdruckschoß immer über alle möglichen Ziele (oder Intentionen) hinaus.

Eine Zeit später, das Leben und auch das Sterben wurde bereits unwiderruflich von den Massenmedien modelliert, tauchte Zeitungspapier unter den Pinselstrichen auf.
Die Lettern und Fotos waren nicht übermalt worden, sie traten tatsächlich erst aus einer unscheinbaren All-Existenz an die Oberfläche. Mitten im Medienkrieg beharrte der Maler auf seinen bescheidenen Mitteln. Jetzt, wo sich immer mehr Fenster auf die genannte Welt auftaten, in jeder Sekunde eine Myriade von Fenstern auf dieentferntesten Punkte der Welt, schloß der Maler die Fensterflügel und lenkte denBlick auf den Innenraum, den er gleich einer letzten Bastion zu bewahrengedachte. Die Bilder vervielfachten zunehmend die Fenster, jedes Bild und jedes Bild im Bild zeigte ein anderes Bild, aber die Fenster glichen nicht denen der
Medien, sie waren nicht hellseherisch und nicht blendend, sondern blind. Man mußte durch ihre Haut hindurchsehen, um etwas sehen zu können, und was man sah, war immer ein neues Fenster, das zu einem neuen Innenraum führte. Die Räume selbst aber gaben ihre Tiefe auf, die Fläche ließ die nächste Fläche unmittelbar durchscheinen, sie kämpften nicht untereinander um die Vorherrschaft.
Und nun, in den neuen Bildern, die die Herausforderung der Oberfläche angenommen und die Medienräume umgestülpt haben, finden wir das fortwirkende Pathos ruinengleich verteilt, Oberflächen und Grenzverläufe ignorierend, Gegengewicht und beziehungslos zu den Ordnungsmustern der Fenster. Das Dunkle ist aufgeklärt, das Grelle gedämpft, die Ordnung verfeinert, die Ordnung befestigt. Fast fragt man sich, was di Zukunft noch bringen soll. Fast fühlt man sich heimisch in dieser transparenten und haltlosen Welt. Die Worte eines
Geistesverwandten klingen in unseren Ohren: "Ich brauche poetisches Magma, aber nur zu dem Zweck, mich davon zu befreien. Was vom Pathos bleibt, ist Pathos der Freiheit, und was von der Gefängnisarchitektur bleibt, ist unerschöpfliches
Ornament (ist Echo vom Urquell).
Dämpfung einerseits, Klärung andererseits; und Wiederkehr, Wiederkehr auch der
frühesten Elemente. Wiederkehr noch im selben Bild, das ja stets eine Vielzahl von
Bildern ist. Die Rahmenfläche scheint sorgfältig unterteilt in Gevierte, Quadrate,
Rechtecke, Streifen. Im jeweiligen Innenfenster sieht sich eine Figur oder ein Kopf
gefangen, doch aus einigen dieser Fenster ist der Kopf oder die Figur bereits
verschwunden.
Sie hat sich verflüchtigt und im Geviert eine Abwesenheit zurückgelassen. Der Betrachter wartet auf ihr Wiedererscheinen, entdeckt sie dann aber plötzlich im nächsten Abteil, die Figur als Schatten, den Kopf als blasenförmiges Gebilde.
Eine Vierer-Serie wie "Gitter, Säulen, Schaf, Einblick" (abgebildet im Katalog "Magma in movimento" ordnet sich so an, daß zwischen den Bildern die Leerform eines Fensterkreuzes bleibt. Das Gitter sperrt ein oder aus, die Säulen erlauben den Durchgang, das Schaf ist ein erstarrtes, wiederkehrendes Element, der Einblick unterstreicht die Introvertierung und außerdem die Serienhaftigkeit selbst, die
wachsende Verbindung zwischen den Bildern. Im vierten Quadrat ist ein Quadrat mit Kopf zu sehen, rechts und links der Ansatz weiterer Quadrate, wie bei Filmstreifen oder Eisenbahnzügen. Die Bilder ziehen am Betrachter vorbei, nicht er an ihnen, oder besser: während der Betrachter (das Auge) an den Bildern vorbeizieht, ziehen die Bilder am Betrachter (am Auge) vorbei. Das gibt an manchen Stellen einen Ausgleich, einen Schwebezustand, dann aber wieder eine potenzierte Beschleunigung. Der Streifen im Bild und der Streifen der Bilder sind möglicherweise endlos, die Serie ist nicht auf ihren Abschluß hin angelegt. Wo aber
die Serienbewegung erstarrt, beginnen die unterteilten Flächen ein Spiel von Schein und Täuschung, von Nachbarschaft und Prädominanz, das den Betrachter ähnlich anzieht, ähnlich verwirrt wie ein Labyrinth (es wäre dies, im Vergleich gesprochen, ein~ Labyrinth nicht der verschlungenen Wege, sondern der oszillierenden, hypertransparenten Flächen). Es erschließt sich nun eine subtile Architektur mit Stufen, Säulen, Pfeilern, Ecken, Nischen, Podesten, Tribünen, Thronen, Stühlen, Luken, Stockwerken. Die Porträts selbst beginnen sich zu
unterteilen, sie zerfallen in Stücke, in vielfache Körperteilporträts, denen auch schon ein Podest oder Fensterkreuz zuhilfe eilt, um sie zu stützen, zu befestigen.
Überraschend zeigt sich nach längerem Hinsehen ein Lichtspalt, ein Lichtfenster, eine pure Aufhellung. Überraschend streckt sich dir eine Leiter entgegen, die wohl eine Aufforderung bedeutet. Aber auch hier, in einem schwachfarbigen Niemandsland, posiert jemand, ein Namen-, Alters- und Geschlechtsloser. An diesem mußt du vorbei. So kommt die Serie wieder in Bewegung, du wendest dich dem benachbarten Bild zu, merkst kaum den Übergang, identifizierst dich mit dem Übergang. Keine Grenzformalitäten, die Farben leben zusammen, gleichen sich an, atmen im Übergang, sind dann nur ein Hauch. Wie eh und je, wie schon vorzeiten die älpischen Sauschneider und Radfahrer, posieren die Figuren. Sie treten hervor,
versuchen einen Schritt aus der Umgebung heraus. Etwa die Gruppe, die sich zum Gruppenbild formiert, deren Köpfe aber fortbleiben, Brust heraus, eine entspannte, Entspannung demonstrierende Gesellschaft, die ihre eigene Auflösung noch nicht bemerkt ("Übersetzung der Triebe und Träume I"). Im nächsten oder übernächsten Bild der Serie wird allein die Abwesenheit noch etwas bedeuten. Während die Figuren also posieren, werden sie dem Anblick bereits entzogen. Der Flächentäuschung entspricht eine psychologische Täuschung. Dem Sich-Präsentieren der Figuren widerspricht der Verfall ihrer Identität. Die eigentliche
Frage, die sie naturgemäß nicht an sich richten, lautet: "Wer oder was bin ich?":
Die Washeit ist in Wahrheit bereits verloren. Schließlich, nach einigen Umwegen, die letzte Frage: "Bin ich?" Tatsache ist, und so lange wir die Außenstehenden sind und die Leiter nicht verkehrtherum benützen, haben wir ein leichtes Spiel der Erkenntnis - Tatsache ist, daß die Körper zerstücken, daß sie abrinnen und oft nur einen Abschaum zurücklassen, daß sie verwischen und verwehen und oft nur einen Rauch zurücklassen, oder eine Farbturbulenz, die von einem Abgang zeugt. Nach unten die Rinnsale, Erinnerung an vergangene Wurzeln; nach oben die Zacken, die Flammen. Was als Körper erscheint, ist entweder ungeboren, in embryonalem Zustand verharrend, also zu träge, um wirklich aufzutreten; oder zu flüchtig, daher im Sterben begriffen, dem Zerfall nahe, vom Nichts schon bedrängt. Über die Köpfe und Leiber hinweg, unerreichbar für die Bildgefangenen, sichtbar für die nach innen Schauenden, für die Einblickenden, tönt im ornamentalen Spiel das Echo vom Quell. Die Einblickenden erleben die Auflösung der Figuren als Erleichterung. Der Rahmen, fühlen sie, ist kein Joch mehr, mit dem äußeren Druck und der inneren Verkrampfung hat es ein Ende. Es überkommt sie bisweilen der Schauer des Schönen, angesichts eines sterbenden Kriegers zum Beispiel, der sich doch,während er stirbt, noch einmal und vielleicht am schönsten erhebt, der aber auch
schon ein Schatten ist, ein Schatten seiner selbst, von der Transparenz der Flächen ein- und heimgeholt, hinübergeholt in ein ätherisches Gefilde. Dies der Pathosrest kurz vor dem Ende, vor der nüchternen Schönheit.
Aber noch ist nicht diese vollkommene Freiheit, oder höchstens ist sie am durchsichtigen Grund der Bilder. Darauf aber, manchmal über Grenzlinien hinweg, sind die Körperreste zerstreut: ähnlich, wenngleich in freierer Ordnung, wie die Stücke der Mondgöttin Coyolxauhqui. Zumeist jedoch geht mit der Zerstückung eine Verwandlung einher: aus dem Körper wird ein Körperteil, aus dem Körperteil ein Raumteil, aus dem Raumteil ein Teil einer Fläche. So sehen wir ohne Bezug zur Umgebung das Vereinzelte und Verstreute, auch Köpfe und Innereien, auch übriggebliebene Haltungen; wir sehen Lampions und Glühbirnen, Luft- oder
Fischblasen, Flaschenhälse, umgestürzte Vulkane, aus denen das Feuer rinnt; Stürme, Turbulenzen, Knäuel, die an ein Pathos erinnern; Torsi, die in ein Kameraauge blicken; gekippte Büsten, den oberen (zenitalen) Abgrund anstarrend. Wir sehen die eingangs erwähnten Dinge mit charakteristischer und wiederkehrender Umrißlinie, aber ohne bestimmbare Substanz, die viel-leicht die Seelen der Bilder sind, oder die Motoren der Bilder, die Verursacher von Flucht und Erstarrung. Und am hypothetischen Ende der Serie sehen wir nur noch Schatten und Licht, nicht schwarze und weiße, sondern rote und gelbe Lichtpunkte, Lichtflächen und Schatten, die sich der Frage nach der Washeit endgültig entziehen.Kurz vor dem konjunktivischen Ende: Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Ein einzelner oder alle? Oder war nicht einmal das Fenster (im Bild) aufgegangen? War bloß ein Schatten über die Haut des Fensters gehuscht? Sogar wenn die
letzte Szene des Treibens eine Sterbe-, ja eine Folter-, ja eine Mordszene ist, erhebt sich kein einziger Schrei, nicht einmal ein Grollen. Wir sehen diese Szenen jetzt wie aus großer Feme, durch unzählige Fenster hindurch. Nur das Echo der Quelle liegt nach wie vor über der durchsichtigen Landschaft, in der sich jedes Element unzählige Male wiederholt. Sonst aber Stille. Gelassenheit im Äußersten.


Leopold Federmair, 1994


(erschienen im Ausst. Kat. "Zwischen den Vorgängen", Berlin/Wien 1994)