Früher,
früher waren da Elemente, die auf etwas verwiesen, das man zu kennen
meinte, etwas, worüber personale, chronologisch geordnete Angaben
möglichwaren: eine Biographie. Das Gebirge zum Beispiel war das Gebirge
der Kindheit, die Frau war die Mutter oder die Geliebte,der Sitzende war
der Freund, der Hund mit dem Stock im Maul war der Begleiter, die Schafe
sahen drein wie Gebirgsschafe, die Schweine wurden brutal abgeschlachtet
wie in früheren Zeiten, dieunheimatlichen Landschaften hat ten geographische
Namen. Der war der und das war das und hieß so und so. Aber schon
am Anfang der Geschichte dieses Sehens waren da an den selben Stellen
Bilder auch nie gesehene Elemente, denen nichtsim vertrauen Leben entsprach,
die aber im Lauf der Zeit des Betrachtens eine eigene Vertrautheit erzeugten:Kleinpeterfiguren
undKleinpeterdinge,zusammengeklappte, halbgeborene Wesen und andere, die
sich schon zu zersetzen begannen, die ihre Verwesung ahnen ließen;
auch Dinge mit eigenwilligen Umrissen, ohne bestimmbare Substanz, ohne
erkennbare Deformation und folglich ohne Herkunft von einer ursprünglicheren
Form eines anderen Dings.
Manchmal
litten die Wesen unter dem Druck ihrer Umgebung, am meisten dann, wenn
die Umgebung scheinbar leer war, sie krampften sich zusammen, der Druckkam
von den Seiten, aber auch von oben und unten, und am Ende so einesProzesses,
eines sogenannten bildnerischen Prozesses, konnte es sein, daß sie
zuStein wurden. Mensch, Brot, Wasser, alles Einzelne war plötzlich
zu Stein geworden. Und ringsum tönten die Stürme der Pinselstriche,
die sich nicht aneinanderfügen wollten, und nur das Versteinte widerstand.
Die Striche waren gegeneinandergeführt, die Flächen verbissen
sich ineinander und rauhten sich dabei auf, sie schoben sich übereinander
und kämpften, wenn sielagen, um den kleinsten Vorschein. Breschen
wurden geschlagen von dereingreifenden Hand, Spälte wurden geöffnet,
Stellen aufgekratzt, Decken weggezerrt. Die gehorchte einer Ausdruckswut,
und das, was sich ausdrückte,konnte nur von einem Innenraum herkommen:
Es war also die Wut einer Art Seele, die sich in den kräftigen Farben
wiedererkannte, aber noch im selben Augenblickwußte, daß sie
sich täuschte. Solchen Täuschungen setzte sie nach und verwarf
sie, fand naturgemäß keine Ruhe, kam im Ausdruck nicht zu sich.
Der Ausdruckschoß immer über alle möglichen Ziele (oder
Intentionen) hinaus.
Eine
Zeit später, das Leben und auch das Sterben wurde bereits unwiderruflich
von den Massenmedien modelliert, tauchte Zeitungspapier unter den Pinselstrichen
auf.
Die Lettern und Fotos waren nicht übermalt worden, sie traten tatsächlich
erst aus einer unscheinbaren All-Existenz an die Oberfläche. Mitten
im Medienkrieg beharrte der Maler auf seinen bescheidenen Mitteln. Jetzt,
wo sich immer mehr Fenster auf die genannte Welt auftaten, in jeder Sekunde
eine Myriade von Fenstern auf dieentferntesten Punkte der Welt, schloß
der Maler die Fensterflügel und lenkte denBlick auf den Innenraum,
den er gleich einer letzten Bastion zu bewahrengedachte. Die Bilder vervielfachten
zunehmend die Fenster, jedes Bild und jedes Bild im Bild zeigte ein anderes
Bild, aber die Fenster glichen nicht denen der
Medien, sie waren nicht hellseherisch und nicht blendend, sondern blind.
Man mußte durch ihre Haut hindurchsehen, um etwas sehen zu können,
und was man sah, war immer ein neues Fenster, das zu einem neuen Innenraum
führte. Die Räume selbst aber gaben ihre Tiefe auf, die Fläche
ließ die nächste Fläche unmittelbar durchscheinen, sie
kämpften nicht untereinander um die Vorherrschaft.
Und nun, in den neuen Bildern, die die Herausforderung der Oberfläche
angenommen und die Medienräume umgestülpt haben, finden wir
das fortwirkende Pathos ruinengleich verteilt, Oberflächen und Grenzverläufe
ignorierend, Gegengewicht und beziehungslos zu den Ordnungsmustern der
Fenster. Das Dunkle ist aufgeklärt, das Grelle gedämpft, die
Ordnung verfeinert, die Ordnung befestigt. Fast fragt man sich, was di
Zukunft noch bringen soll. Fast fühlt man sich heimisch in dieser
transparenten und haltlosen Welt. Die Worte eines
Geistesverwandten klingen in unseren Ohren: "Ich brauche poetisches
Magma, aber nur zu dem Zweck, mich davon zu befreien. Was vom Pathos bleibt,
ist Pathos der Freiheit, und was von der Gefängnisarchitektur bleibt,
ist unerschöpfliches
Ornament (ist Echo vom Urquell).
Dämpfung einerseits, Klärung andererseits; und Wiederkehr, Wiederkehr
auch der
frühesten Elemente. Wiederkehr noch im selben Bild, das ja stets
eine Vielzahl von
Bildern ist. Die Rahmenfläche scheint sorgfältig unterteilt
in Gevierte, Quadrate,
Rechtecke, Streifen. Im jeweiligen Innenfenster sieht sich eine Figur
oder ein Kopf
gefangen, doch aus einigen dieser Fenster ist der Kopf oder die Figur
bereits
verschwunden.
Sie hat sich verflüchtigt und im Geviert eine Abwesenheit zurückgelassen.
Der Betrachter wartet auf ihr Wiedererscheinen, entdeckt sie dann aber
plötzlich im nächsten Abteil, die Figur als Schatten, den Kopf
als blasenförmiges Gebilde.Eine
Vierer-Serie wie "Gitter, Säulen, Schaf, Einblick" (abgebildet
im Katalog "Magma in movimento" ordnet sich so an, daß
zwischen den Bildern die Leerform eines Fensterkreuzes bleibt. Das Gitter
sperrt ein oder aus, die Säulen erlauben den Durchgang, das Schaf
ist ein erstarrtes, wiederkehrendes Element, der Einblick unterstreicht
die Introvertierung und außerdem die Serienhaftigkeit selbst, die
wachsende Verbindung zwischen den Bildern. Im vierten Quadrat ist ein
Quadrat mit Kopf zu sehen, rechts und links der Ansatz weiterer Quadrate,
wie bei Filmstreifen oder Eisenbahnzügen. Die Bilder ziehen am Betrachter
vorbei, nicht er an ihnen, oder besser: während der Betrachter (das
Auge) an den Bildern vorbeizieht, ziehen die Bilder am Betrachter (am
Auge) vorbei. Das gibt an manchen Stellen einen Ausgleich, einen Schwebezustand,
dann aber wieder eine potenzierte Beschleunigung. Der Streifen im Bild
und der Streifen der Bilder sind möglicherweise endlos, die Serie
ist nicht auf ihren Abschluß hin angelegt. Wo aber
die Serienbewegung erstarrt, beginnen die unterteilten Flächen ein
Spiel von Schein und Täuschung, von Nachbarschaft und Prädominanz,
das den Betrachter ähnlich anzieht, ähnlich verwirrt wie ein
Labyrinth (es wäre dies, im Vergleich gesprochen, ein~ Labyrinth
nicht der verschlungenen Wege, sondern der oszillierenden, hypertransparenten
Flächen). Es erschließt sich nun eine subtile Architektur mit
Stufen, Säulen, Pfeilern, Ecken, Nischen, Podesten, Tribünen,
Thronen, Stühlen, Luken, Stockwerken. Die Porträts selbst beginnen
sich zu
unterteilen, sie zerfallen in Stücke, in vielfache Körperteilporträts,
denen auch schon ein Podest oder Fensterkreuz zuhilfe eilt, um sie zu
stützen, zu befestigen.
Überraschend zeigt sich nach längerem Hinsehen ein Lichtspalt,
ein Lichtfenster, eine pure Aufhellung. Überraschend streckt sich
dir eine Leiter entgegen, die wohl eine Aufforderung bedeutet. Aber auch
hier, in einem schwachfarbigen Niemandsland, posiert jemand, ein Namen-,
Alters- und Geschlechtsloser. An diesem mußt du vorbei. So kommt
die Serie wieder in Bewegung, du wendest dich dem benachbarten Bild zu,
merkst kaum den Übergang, identifizierst dich mit dem Übergang.
Keine Grenzformalitäten, die Farben leben zusammen, gleichen sich
an, atmen im Übergang, sind dann nur ein Hauch. Wie eh und je, wie
schon vorzeiten die älpischen Sauschneider und Radfahrer, posieren
die Figuren. Sie treten hervor,
versuchen einen Schritt aus der Umgebung heraus. Etwa die Gruppe, die
sich zum Gruppenbild formiert, deren Köpfe aber fortbleiben, Brust
heraus, eine entspannte, Entspannung demonstrierende Gesellschaft, die
ihre eigene Auflösung noch nicht bemerkt ("Übersetzung
der Triebe und Träume I"). Im nächsten oder übernächsten
Bild der Serie wird allein die Abwesenheit noch etwas bedeuten. Während
die Figuren also posieren, werden sie dem Anblick bereits entzogen. Der
Flächentäuschung entspricht eine psychologische Täuschung.
Dem Sich-Präsentieren der Figuren widerspricht der Verfall ihrer
Identität. Die eigentliche
Frage, die sie naturgemäß nicht an sich richten, lautet: "Wer
oder was bin ich?":
Die Washeit ist in Wahrheit bereits verloren. Schließlich, nach
einigen Umwegen, die letzte Frage: "Bin ich?" Tatsache ist,
und so lange wir die Außenstehenden sind und die Leiter nicht verkehrtherum
benützen, haben wir ein leichtes Spiel der Erkenntnis - Tatsache
ist, daß die Körper zerstücken, daß sie abrinnen
und oft nur einen Abschaum zurücklassen, daß sie verwischen
und verwehen und oft nur einen Rauch zurücklassen, oder eine Farbturbulenz,
die von einem Abgang zeugt. Nach unten die Rinnsale, Erinnerung an vergangene
Wurzeln; nach oben die Zacken, die Flammen. Was als Körper erscheint,
ist entweder ungeboren, in embryonalem Zustand verharrend, also zu träge,
um wirklich aufzutreten; oder zu flüchtig, daher im Sterben begriffen,
dem Zerfall nahe, vom Nichts schon bedrängt. Über die Köpfe
und Leiber hinweg, unerreichbar für die Bildgefangenen, sichtbar
für die nach innen Schauenden, für die Einblickenden, tönt
im ornamentalen Spiel das Echo vom Quell. Die Einblickenden erleben die
Auflösung der Figuren als Erleichterung. Der Rahmen, fühlen
sie, ist kein Joch mehr, mit dem äußeren Druck und der inneren
Verkrampfung hat es ein Ende. Es überkommt sie bisweilen der Schauer
des Schönen, angesichts eines sterbenden Kriegers zum Beispiel, der
sich doch,während er stirbt, noch einmal und vielleicht am schönsten
erhebt, der aber auch
schon ein Schatten ist, ein Schatten seiner selbst, von der Transparenz
der Flächen ein- und heimgeholt, hinübergeholt in ein ätherisches
Gefilde. Dies der Pathosrest kurz vor dem Ende, vor der nüchternen
Schönheit.
Aber noch ist nicht diese vollkommene Freiheit, oder höchstens ist
sie am durchsichtigen Grund der Bilder. Darauf aber, manchmal über
Grenzlinien hinweg, sind die Körperreste zerstreut: ähnlich,
wenngleich in freierer Ordnung, wie die Stücke der Mondgöttin
Coyolxauhqui. Zumeist jedoch geht mit der Zerstückung eine Verwandlung
einher: aus dem Körper wird ein Körperteil, aus dem Körperteil
ein Raumteil, aus dem Raumteil ein Teil einer Fläche. So sehen wir
ohne Bezug zur Umgebung das Vereinzelte und Verstreute, auch Köpfe
und Innereien, auch übriggebliebene Haltungen; wir sehen Lampions
und Glühbirnen, Luft- oder
Fischblasen, Flaschenhälse, umgestürzte Vulkane, aus denen das
Feuer rinnt; Stürme, Turbulenzen, Knäuel, die an ein Pathos
erinnern; Torsi, die in ein Kameraauge blicken; gekippte Büsten,
den oberen (zenitalen) Abgrund anstarrend. Wir sehen die eingangs erwähnten
Dinge mit charakteristischer und wiederkehrender Umrißlinie, aber
ohne bestimmbare Substanz, die viel-leicht die Seelen der Bilder sind,
oder die Motoren der Bilder, die Verursacher von Flucht und Erstarrung.
Und am hypothetischen Ende der Serie sehen wir nur noch Schatten und Licht,
nicht schwarze und weiße, sondern rote und gelbe Lichtpunkte, Lichtflächen
und Schatten, die sich der Frage nach der Washeit endgültig entziehen.Kurz
vor dem konjunktivischen Ende: Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel
eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in
der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte
die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer,
der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es
alle? War noch Hilfe? Ein einzelner oder alle? Oder war nicht einmal das
Fenster (im Bild) aufgegangen? War bloß ein Schatten über die
Haut des Fensters gehuscht? Sogar wenn die
letzte Szene des Treibens eine Sterbe-, ja eine Folter-, ja eine Mordszene
ist, erhebt sich kein einziger Schrei, nicht einmal ein Grollen. Wir sehen
diese Szenen jetzt wie aus großer Feme, durch unzählige Fenster
hindurch. Nur das Echo der Quelle liegt nach wie vor über der durchsichtigen
Landschaft, in der sich jedes Element unzählige Male wiederholt.
Sonst aber Stille. Gelassenheit im Äußersten.
Leopold Federmair, 1994
(erschienen im Ausst. Kat. "Zwischen den Vorgängen", Berlin/Wien
1994)
|