Als
sehr junger Mensch, noch lange bevor er Leseerzieher war und in der Öffentlichkeit
Professor K. genannt wurde, fuhr K. nach Hamburg und heuerte als Schiffsjunge
an, umdie Welt zu sehen.
Er kam nach Amerika und hörte, dass der junge, reiche, elegante Präsident,
Freund der Frauen und der Schwarzen, von seinen Feinden ermordet worden
war. Auf demWeg nach Afrika, auf die Küste Floridas zurückblickend,
sah er eine Rakete aufsteigen.
Es hieß, sie werde bald auf dem Mond landen. Er kam nach Kapstadt.
Dort gingen die Leute in großer Abendkleidung ins Kino, denn es
gab noch kein Fernsehen in diesem abgelegenen Land. Alle Kinogeher waren
weißhäutig,und K. schämte sich wegen seiner einfachen
Kleidung, die gar nichts Festliches hatte. Er sah einen amerikanischen
Film, der in seiner Heimatstadt gedreht worden war. Es war die Liebesgeschichte
von einem verwitweten Baron (gespielt von Christopher Plummer) mit sieben
Kindern, der sich in das Kindermädchen verliebt, das er sich aus
dem naheliegenden Frauenkloster geholt hat. Er heiratet das Kindermädchen
(Julie Andrews), und sie gründen mit den Kindern einen Chor für
Heimatlieder. Als die Nazis die Macht übernehmen, gelingt es dem
Baron und seiner Familie auf abenteuerliche Weise direkt aus der Felsenreitschule
nach Amerika zu fliehen, wo sie reich und glücklich bis an das Ende
ihres Lebens leben, was man natürlich im Film nicht mehr sehen, sich
aber ohne weiteres denken konnte.
K. verspürte Heimweh. Nach dem Film ging er spazieren. Auf den Bänken
stand:
For whites only. Er wagte es nicht, sich zu setzen.
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BEGEGNUNG
AUF DER FÄHRE
Es
muss vor ziemlich genau zwanzig Jahren gewesen sein, dass ich dem Mann
auf derFähre begegnet bin. Es war auf der Fahrt über den Bodensee
von Konstanz nach Meersburg.
Der Mann saß an Deck, es muss aber Winter gewesen sein, denn er
war in einen festen, grauen Mantel mit Pelzkragen gehüllt. Man sah
dem Mantel an, dass er von einem erstklassigen Schneider gemacht war.
Der Mann hatte einen missmutigen Gesichtsausdruck: herabgezogene Mundwinkel,
zwei scharfe Längsfalten links und rechts der Nase. Er muss magenkrank
sein, habe ich gleich gedacht. Es heißt, Nasenfalten seien ein sicheres
Zeichen
gastritischer Veranlagung. Und natürlich sind Magenkranke immer missgelaunt.
Erst viel später habe ich erfahren, dass der Mann schon als Kind
so war, mit heruntergezogenen Mundwinkeln und leicht missmutig, als habe
er schon früh Unordnung und Leid erfahren.
Der Mann blickte also mit heruntergezogenen Mundwinkeln und zusammengekniffenen
Augen über die blendende Seefläche. Die Winter am Bodensee sind
sonnig und schneearm.
Die Überfahrt von Konstanz nach Meersburg dauert nicht sehr lang.
Am näherrückenden Ufer sah man schon den Turm, in dem Annette
von Droste-Hülshoff fruchtbar-bittere Jahre verbracht hat. Kurz vor
der Anlegestelle kam eine Dame an Deck, in ihren Pelz wie in ihre mittleren
Jahre gehüllt, Stolz und Resignation in einem. Sie setzte sich neben
den Mann auf die Relingbank und sagte etwas zu ihm, aber er starrte nur
missmutig aufs Wasser, als habe er nicht einmal bemerkt, dass neben ihm
jemand saß. Trotzdem war es klar, dass die
Dame nicht einfach eine Fremde, eine Bittstellerin zum Beispiel, für
den Mann im teuren Mantel war. Es muss seine Frau sein, habe ich damals
gedacht, oder, wenn er nicht verheiratet ist, seine langjährige Sekretärin.
Beim Verlassen der Fähre sah ich die Dame im Pelz am Steuer eines
hellfarbigen, vielleicht weißen oder beigen Mercedes mit Zürcher
Nummernschild aus dem Unterdeck herausfahren.
Neben ihr saß der Mann mit unverändert missmutigem Gesichtsausdruck.
Nur dass er jetzt nicht auf den Bodensee sah, sondern durch die Windschutzscheibe
auf die Straße. Der Mantel muss tatsächlich von einem der ersten
Schneider Zürichs gefertigt worden sein, habe ich gedacht.
Während ich weiterging, in Richtung des Droste-Turms, wurde mir klar,
dass mir der Mann bekannt vorkam. Habe ich ihn vielleicht im Fernsehen
gesehen, wo er eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens über
die deutsche Geschichte befragt hat? Mehr als sein Gesicht war mir seine
antiquierte Sprechweise im Gedächtnis geblieben. Er sprach, als wäre
er einem Buch des vergangenen Jahrhunderts entsprungen, wenn er etwa eine
Frage stellte, um dann hinzuzufügen, dass er dazu ein kräftig
Wörtlein hören wollte. Dann dachte ich,
dass ich ihn vielleicht nicht im Fernsehen und auch sonst nirgends gesehen
habe, sondern dass er jemandem ähnlich sah, dem ich als Kind begegnet
war.
Das alles und noch mehr ist mir eingefallen, als ich die Nachricht vom
Tod des 85jährigen Golo Mann gelesen habe, schloss der Professor
seine Vorlesung.
ERWARTUNG
Professor K. erinnerte sich noch als Greis an die Nacht, die er - aus
Gründen, die ihm entfallen waren - im Wartesaal zum Kreissaal verbracht
hatte.
Der Raum, in dem auf Betten die Frauen in den Wehen lagen, war dunkel
und nur von einer Notleuchte über der Tür dumpf erhellt. Die
Frauen stöhnten wie im Schlaf, aber sie waren alle wach. Manchmal
flammte grelles Licht an der Zimmerdecke auf: die Hebamme kam und kontrollierte
den Fortgang der Wehen, indem sie die gummibehandschuhte Hand in die Scheide
der wimmernden Frauen schob, um zu sehen, ob sich der Muttermund der
Gebärmutter schon weit genug geöffnet hatte. Sie sind alle Gebärmutter,
und alle haben einen verführerischen Muttermund, dachte Professor
K., wobei er sich für diesen Gedanken schämte, denn die werdenden
Mütter litten unter furchtbaren Schmerzen, wenn der sachliche Finger
der Hebamme in ihnen herumtastete.
Dann verging wieder viel Zeit in Schweigen und Finsternis, die nur vom
Geruch des Schweisses und der Fruchtwasser absondernden Gebärmütter
erfüllt war. Manchmal, wenn eine von schweren Wehen förmlich
überrollt wurde, näherte sich K. ihrem Gesicht. Er notierte:
Gesichtsausdruck gleicht dem, den man bei Frauen im Moment des Orgasmus
beobachtet haben soll.
Im Morgengrauen wurde eine auf dem Bett hinausgerollt. Kurz danach steckte
ein Mann den Kopf zur Tür herein und fragte nach seiner Frau. La
stanno preparando!*, flüsterte eine aus ihrem Bett heraus.
Professor K. musste an eine Hinrichtung denken, die er einmal gesehen
hatte, wo dem Verurteilten vorher der Nacken ausrasiert wurde. Tatsächlich
werden den Frauen - aus Gründen der Hygiene - die Schamhaare abrasiert.
Wenig später hörte er die furchtbaren Schreie aus dem Kreissaal.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Er ging nach Hause und wusste nicht,
ob er geträumt hatte oder
wachgeblieben war.
*Sie
wird gerade fertig gemacht.
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